Wissen und Technik

Auf dem Campus der Analyse

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Wechsel an der International Psychoanalytic University (IPU) in Berlin: Präsident Martin Teising nimmt Abschied und blickt zurück.

Spreeblick. 630 Studierende werden aktuell auf dem Campus der IPU in Berlin-Moabit unterrichtet.

Alle, die in den kleinen Gemischtwarenladen kamen, erzählten ihre Geschichten. Kunden sprachen über Sorgen, Wünsche, Nöte, über Familienfeiern, Trauerfälle, Konflikte. In Itzehoe, einem Städtchen im waldigen Westen Schleswig-Holsteins, hatten Martin Teisings Eltern nach der Flucht aus Ostpreußen den kleinen Laden aufgemacht. In dem Ort wurde der Sohn 1951 geboren und wuchs dort auf.

Vor sechs Jahren kam Teising, Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie, als Präsident der International Psychoanalytic University (IPU) nach Berlin. Von seinem hellen Arbeitszimmer in dem modernen Bau der Privatuniversität blickt man auf das Wasser der Spree in Moabit. Für Teising sind es Abschiedsblicke, am 1. Oktober wird er sein Amt an seine Kollegin Ilka Quindeau übergeben. Mit 140 Wissenschaftlern und Gastwissenschaftlern aus aller Welt, die rund 630 Studierende im Bachelor und Master oder in Fortbildungen neben dem Beruf betreuen, ist die IPU im Vergleich zu den Großfakultäten der staatlichen Unis eher ein kleines Haus.

80 bis 90 Prozent der Studierenden wollen Therapeuten werden

Doch nirgends in Deutschland, in Europa, existiert eine vergleichbare Institution. Ihren Auftrag sieht die IPU in der „Analyse unbewusster Prozesse in Individuum, Gruppe, Organisation und Gesellschaft“, studiert werden dazu die Fächer Psychologie und Kulturwissenschaft. Auf Deutsch und auf Englisch geht es um so unterschiedliche Felder wie Methodenlehre, Traumatheorie, Diskurskritik, um Neurophysiologie, Virtualität, Genderstudien und Supervisionsforschung. Viele der Lehrenden sind selber therapeutisch tätig, und „achtzig bis neunzig Prozent der Studierenden“, schätzt Teising, „wollen Therapeuten werden“. Einstweilen sind sie mit Laptops und Bücherbündeln auf dem Campus unterwegs.

Martin Teising, Psychoanalytiker und Präsident der IPU von 2012 bis 2018.

Sein eigener Weg an diesen Ort könnte auch mit dem Laden des Vaters begonnen haben. Im Elternhaus gab es kaum Bücher, aber, erinnert er: „Es wurde viel gesprochen.“ Man beobachtete das soziale Geflecht, wusste viel vom Privatleben anderer – und musste stets diskret damit umgehen. So wie Psychoanalytiker mit dem, was sie von der Couch hören? „Vielleicht war das ein Ursprung“, meint Martin Teising lächelnd.

Auch Lehrer, die frisch aus der Studentenrevolte kamen, bahnten ihm anfangs den Pfad, dann der Zivildienst an einer Klinik und das Studium der Medizin und Soziologie in Frankfurt am Main, die Lektüre von Mitscherlich und Marcuse. Nicht zuletzt prägt Teising seine Ausbildung zum Psychosomatiker und Analytiker in Kassel und in Bad Hersfeld, wo er, wie seine Ehefrau, eine analytische Praxis unterhält. Ingrid Moeslein-Teising leitet derzeit die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie, die DGPT, ein Paar im permanenten Dialog.

Die IPU wurde 2009 auf private Initiative gegründet

Der junge Mann hatte gedacht, werde erst einmal das psychische Leid der Gesellschaft erkannt und der Stress im Kapitalismus bekämpft, „dann entsteht eine bessere Welt!“. Auch darüber muss Teising schmunzeln, weder wehmütig noch abgeklärt, sondern in Gelassenheit ernüchtert. Dass sich die Welt als komplexer herausgestellt hat, weiß er zu begrüßen, und als er sich eine Zeit lang bei den Grünen engagiert hatte, war ihm vollends klar: Politik ist seine Sache nicht. „Mir sind Fragen und Zweifel wichtiger als eindeutige Positionen.“

Hermeneutisches Verstehen fehlt ihm auch jetzt in den polarisierten Debatten etwa um Xenophobie und Flüchtlinge oder Donald Trump. Konstant blieb Teisings Interesse am Unbewussten, ob als Klinikarzt, als Professor für Sozialpsychologie oder in seinem Forschungsgebiet zum Altern und zur Suizidalität von Männern, „wobei narzisstische Kränkungen und Paradiesvorstellungen eine große Rolle spielen“.

Die IPU, die sich undogmatisch und auf hohem Niveau der Theorie und Praxis von Psychoanalyse widmet, ist ein Glücksfall, der sich privater Initiative verdankt. 2009 wurde sie von der Frankfurter Analytikerin und Psychologieprofessorin Christa Rohde-Dachser mit deren Eigenkapital gegründet. Rohde-Dachser verstand das als Antwort auf die Marginalisierung der Psychoanalyse an staatlichen Hochschulen.

Enttäuscht vom Psychologiestudium an staatlichen Unis

Inzwischen sind IPU-Studiengänge staatlich akkreditiert, das Promotionsrecht wird angestrebt. Die hohen Studiengebühren – ein Vollstudium kostet rund 11 000 Euro im Jahr – können teils durch Stipendien oder Darlehen aufgebracht werden. „An guten amerikanischen Unis ist das Studium weitaus teurer“, erklärt Teising. „Viele kommen zu uns, weil sie enttäuscht sind vom Psychologiestudium an staatlichen Universitäten.“ Sie suchen quasi Slow Food statt Fast Food. Gleichwohl gibt es fruchtbaren Austausch, etwa mit der Freien Universität. Und seit 2011 bietet eine psychotherapeutische Hochschulambulanz kassenfinanzierte Diagnosen und Behandlungen.

Nun überlässt der sportlich Gealterte seinen Posten als Unipräsident seiner Nachfolgerin Ilka Quindeau. Teising, der weiter praktizieren wird, blickt gern auf das Erreichte, etwa auf das IPU-Projekt „Trauma Memory and Trust“, das er gemeinsam mit Gaby Shefler von der Hebrew University of Jerusalem aufbaute.

Mit besonderer Freude führt Teising durch die hervorragend ausgestattete Fachbibliothek des Campus, deren kostbarster Teil sich einer Schenkung verdankt. Vom Nationalsozialismus verfolgt und verfemt, retteten sich viele Mitglieder der Profession ins Exil. Eine deutschsprachige Fachbibliothek entstand unter anderem in London, wohin Sigmund Freud und seine Tochter Anna Freud geflohen waren. Vor zwei Jahren migrierten Hunderte der Bände zurück, als die British Psychoanalytical Society der IPU ihre Bestände stiftete. „Bei uns liest niemand mehr Deutsch“, hatten sie gesagt. Daher stehen die teils raren Monografien, Werkausgaben und Zeitschriften der Vorkriegsjahre jetzt in Vitrinen der Bibliothek an der Spree. Martin Teising behält eine Berliner Wohnung in der Nähe, völlig trennen muss er sich auch von diesen Schätzen nicht.

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